Das Problem: Dublin-III-Verordnung

Nach der Dublin-III-Verordnung müssen Asylsuchende dort das Asylverfahren durchlaufen, wo sie zuerst europäischen Boden betreten haben.
Nach ihrer Flucht aus Syrien hat die Familie sechs Jahre in der Türkei und dann weitere anderthalb Jahre in Portugal gelebt, wo sie jedoch
obdachlos wurde. Deshalb zog die Familie weiter, obwohl sie das laut Verordnung nicht dürfen. Sie haben erneut einen Asylantrag in Deutschland gestellt, der durch den bestehenden Schutzstatus aber nicht zulässig ist und nun Grundlage für die Rückweisung nach Lissabon war. Die Regel ist: Da wo du ankommst, musst du auch bleiben. Dieser Schutzstatus erlaubt zwar das Reisen in der EU, allerdings für maximal 2 Monate an einem Ort. Weil die Familie den Schutzstatus bereits in Portugal hatte, ist der Fall nun keine Dublin-Rückführung sondern ein sogenannter Anerkannten-Fall. Die Dublin-Verordnung ist jedoch die Grundlage, wieso die Familie überhaupt in Portugal hätte bleiben müssen.

Die Familie erhielt in Portugal einen Schutzstatus, der nun also die Grundlage für ihre Ausweisung nach Lissabon war. Dabei hätte es die Möglichkeit gegeben, ihren Aufenthalt in Deutschland zu verlängern.

Denn im EU-Gesetz zur Rückführung ist festgehalten, dass Mitgliedsstaaten jederzeit beschließen können, eine Aufenthaltsberechtigung aus irgendwelchen Gründen auszustellen. Nach dem Selbsteintrittsrecht kann jeder Staat die Zuständigkeit erklären und ein erneutes Asylverfahren erkauben – auch, wenn bereits ein anderer Staat zuständig gewesen ist.

Zudem hätte sofort der Punkt greifen können, dass das Wohl des Kindes gewahrt werden muss und Abschiebungen aufgehalten werden können, wenn ebenjenes bedroht ist. Bei der traumatischen Historie der Kinder wäre dies definitiv gerechtfertigt gewesen.

Als dritten Punkt hätte auch das Chancen-Aufenthaltsrecht (vom 21.12.2022, § 25a) greifen können. Dann hätten drei der Kinder, die älter als 14 Jahre sind und zur Schule gehen, eine Aufenthaltsgestattung und damit auch die gesamte Familie eine Aufenthaltserlaubnis erhalten können, und unserer Meinung nach auch erhalten müssen! Hätte die Abschiebung nur ein paar Monate später stattgefunden, nachdem die Familie 4 Jahre in Deutschland gewesen wäre, hätte dieses Chancen-Aufenthaltsrecht gegriffen und einen Aufenthalt weiter ermöglicht.

Abschiebung trotz Integration?

Das jüngste Kind hat die Hälfte (!) seines Lebens hier an der Nordsee verbracht. Die Töchter (16 und 17) haben gerade eine wegweisende Perspektive erhalten, auf die sie sich wahnsinnig freuten: die Zusage für ein Ausbildungsprogramm nach den Sommerferien in Brake. Trotz dieser Chancen und trotz all ihrer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben wurden sie fortgerissen, erneut entwurzelt und abgeschoben. Und das im Namen europäischen Rechts.

Drei Jahre, ein halbes Leben.

Was macht es mit Menschen, deren Lebensläufe so zerpflückt werden? Was macht es mit Kindern, die immer wieder neu eingeschult und zurückgestuft werden, weil sie die Sprache nicht sprechen und bei Null anfangen müssen?

Was macht es mit denjenigen, die sich vor Ort ehrenamtlich für Schutzsuchende einsetzen, sich einbringen und einfühlen – nur um eines Morgens festzustellen, dass ihre Schützlinge über Nacht entrissen wurden und alles vergebens war?

Was macht es mit unserer Gemeinschaft, wenn Menschen plötzlich verschwinden? Ohne Abschied. Ohne Erklärung. Wenn in Klassenzimmern plötzlich Stühle unbesetzt bleiben, beim Tanzkurs eine Lücke klafft – und Kinder daheim fragen, ob die Polizei auch sie holen kommt?

Wir alle fühlen uns betroffen und ohnmächtig. Doch unsere Hilflosigkeit ist nichts im Vergleich zu dem, was diese Familie durchmachen musste und immer noch muss.

Hätte es Alternativen gegeben?

Das bitterste ist: Es hätte Alternativen gegeben. Warum wurden sie ignoriert?

Familie H. wurde ausgewiesen trotz des Chancen-Aufenthaltsrechts, für welches lediglich einige Monate gefehlt hätten, trotz des Selbsteintrittsrechts, trotz der Kindeswohlgefährdung und trotz ihrer gelingenden Integration. Sie wurden mitten in der Nacht abgeholt und abgeschoben, zu einem Zeitpunkt, der laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) nicht einmal zulässig ist. Sämtliche Habseligkeiten der Kinder, darunter ihre Zeugnisse, befinden sich noch in der Wohnung. Die ganze Abschiebung, besonders aber die zeitweilige Trennung der Familie, ist menschenunwürdig.

Deshalb bitten wir, eine Gruppe von Butjentern und Betroffenen, den Landkreis, das Land Niedersachsen und das BAMF, den Fall der Familie H. noch einmal genaustens zu prüfen, sich für die Rechte der Kinder einzusetzen und so der ganzen Familie eine Rückkehr nach Butjadingen zu ermöglichen.

Denn Integration kann nur gelingen, wenn man sie auch zulässt!

Erfahrungsbericht des Vaters

Nachfolgend ein Bericht des Vaters, wie er die Abschiebung erlebt hat:

„Als ich die Augen öffnete um 3:15 Uhr waren die Polizisten überall in der Wohnung. im Flur, Wohnzimmer, Küche und sogar in unserem Schlafzimmern ca. 13 Personen*.

Danach wachte meine Frau auf, vorlauter schreck fragte sie mich ob hier in Deutschland auch Erdbeben gäbe, ich sagte nein das ist die Polizei. Sie sagten zu uns Sie müssen sich sofort etwas anziehen, weil wir jetzt weggeschickt werden aus Deutschland.

Und haben unsere AOK Karten, Bankkarte, Ausweise, Handys und die Medikamente von meine Frau beschlagnahmt, und erst wo wir im Flughafen waren haben wir nur die Handys zurück bekommen, und die Medikamente haben wir erst im Portugal bekommen. Wir dürften nichts mitnehmen, kein Privat Sachen, Schul Zeugnisse und Unterlagen […].

Kurz bevor wir aus der Wohnung Ausgenommen worden haben die mir und meine Frau in der Küche mitgeteilt das wir in zwei Gruppen aufgeteilt werden und zwar von Hamburg : Wahid, Sedra, Zahra, und Bilal. Und die andere Gruppe von Berlin: Sultana, Ali, Buschra und Almas.

Und wir haben gebetet das wir als Familie zusammen bleiben wollen, und in einem Flieger fliegen möchten. Die haben geantwortet noch sind
wir net zu ihnen also ihr habt kein Wal außer das zu akzeptieren. Und haben gefragt ob wir was zum Essen mitnehmen können zu mindest für die klein Kinder, auch das war uns nicht erlaubt.

Und jetzt sind wir seit ca. 10 Tagen in Portugal und wissen nicht was die mit uns machen wollen, sitzen den ganzen Tag im Hotelzimmer und bekommen am Tag 2 Mahlzeiten, wie es weiter geht ahnen wir nicht, sitzen hilf und planlos.“

*Anmerkung der Redaktion: 2 Polizist:innen und 11 weitere Personen; darunter bspw. Fahrer:innen, Dolmetscher:innen und Amtspersonen.

Alle Fotos und die Nachricht im Originalwortlaut sind mit der ausdrücklichen Erlaubnis und Bitte der Familie übernommen.

Kontakt

Du hast Fragen, möchtest helfen oder über den Fall berichten? Dann kontaktiere uns per Mail unter:

kontakt@wirfuerfamilieh.de